Als ich 1965 meine ersten tastenden Schritte im neu gefundenen Glauben ging, hielt ich es für eine gute Entscheidung, den 3-wöchigen Bibelkurs in Aidlingen zu besuchen. Ich hatte schon mit dem Medizinstudium begonnen, aber während des Kurses wurde ich schwankend. Sollte ich doch umschwenken und Theologie studieren und Pfarrer werden? Am Ende des Kurses durfte sich jeder Teilnehmer einen Bibelvers ziehen, der uns in unserem jungen Glauben helfen sollte, die vor uns liegende Zeit und die damit verbundenen möglichen Entscheidungen zu klären. Gut, dachte ich mir, das kommt mir gerade gelegen. Theologie oder Medizin?
Ich zog Hesekiel 34,16: „Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist.“ Ich las hier sehr deutlich den Zusammenhang mit der Medizin und war von da an ganz sicher, dass die Medizin meine richtige Ausbildung ist. Aber natürlich waren in dem Vers auch noch andere Aufgaben enthalten.
Diese Gedanken ruhten, bis wir uns im Medizinerkreis mit biblischen Leitbildern für unseren Arztberuf beschäftigten. Wir begannen mit den ersten Bibelarbeiten über den Hirten und was es uns dieses Thema als Ärzten zu sagen hat. Schlüsselhaft für uns war die Begegnung mit den Gedanken aus Johannes 10: der gute Hirte, hier der Text.
1Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Räuber. 2Der aber zur Tür hineingeht, der ist der Hirte der Schafe. 3Dem macht der Türhüter auf, und die Schafe hören seine Stimme; und er ruft seine Schafe mit Namen und führt sie hinaus. 4Und, wenn er alle seine Schafe hinausgelassen hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm nach; denn sie kennen seine Stimme. 5Einem Fremden aber folgen sie nicht nach, sondern fliehen vor ihm; denn sie kennen die Stimme der Fremden nicht. 6Dies Gleichnis sagte Jesus zu ihnen; sie verstanden aber nicht, was er ihnen damit sagte.
7Da sprach Jesus wieder: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen. 8Alle, die vor mir gekommen sind, die sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben ihnen nicht gehorcht. 9Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden und wird ein- und ausgehen und Weide finden.
10Ein Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und umzubringen. Ich bin gekommen, damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen. 11Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. 12Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie –13denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe.
14Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich,
15wie mich mein Vater kennt und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe. 16Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden.
27Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir;
Verschiedene Themen des guten Hirten lassen sich in dem Bibeltext nachverfolgen. Wir wollen doch eine Brücke schlagen zu unserem Beruf des Arztes. Ich schreibe die folgenden Zeilen aus meinen Unterlagen, die aus dem Ende der 80er Jahre stammen. Da ist zum einen folgender Bereich:
I. Persönliche Vertrautheit, Kennen, Begleiten, und die Vertrautheit der Stimme. (das innere Verhältnis zwischen Arzt und Patienten)
3 die Schafe hören seine Stimme; und er ruft seine Schafe mit Namen und führt sie hinaus.
4 und die Schafe folgen ihm nach; denn sie kennen seine Stimme.
5 denn sie kennen die Stimme der Fremden nicht.
14 Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich,
16 und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden.
27 Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir;
1. Die Schafe hören die Stimme des Hirten (V.3,16,27).
2. Die Schafe kennen die Stimme und können die Stimme ihres Hirten aus allen anderen Stimmen identifizieren (V.4,14).
3. die Schafe können fremde Stimmen erkennen und ihren Einfluss ausblenden und abwenden (V.5).
4. der Hirte kennt die Schafe persönlich, d.h. mit Namen (V. 3,14,27)
5. die Schafe folgen der Stimme ihres Hirten, d.h. sie hören und gehorchen (V.4).
Schlüsselwörter: Kennen, Vertrauen, Gehorchen
Mittel: Stimme, Gespräch
Das bedeutet für den Arzt, der ein guter Hirte sein will: das persönliche Gespräch mit dem Patienten suchen und pflegen; seinen Namen kennen; Einzelheiten aus Leben und Anamnese kennen; Nachfragen; Anteilnahme zeigen; es geht nicht um eine bestimmte Gesprächstechnik, sondern um Liebe und Empathie. Das persönliche Gespräch hat dann Kraft, wenn mich der andere interessiert.
3 die Schafe hören seine Stimme; und er ruft seine Schafe mit Namen und führt sie hinaus.
Dieser Vers beschreibt ein tiefes Kennen. Der Hirte kennt seine Schafe und erkennt, wenn ihnen etwas fehlt. Dieses persönliche Kennen seiner Patienten gibt dem Arzt ein besonderes Instrumentarium an die Hand, nämlich Frühsymptome von gefährlichen und abwendbaren Erkrankungen zu erkennen. So kenne ich sie/ihn nicht! Was steckt dahinter?
Kennen und Vertrauen führt zu Hören und Gehorchen (V. 3+4). Der Arzt, der ein Hirte ist, nimmt Einfluss auf den Patienten im Bereich von Gesundheitserziehung und der Prävention. Worte zum Patienten und Mühe um den Patienten haben nach und nach Einfluss. „Herr Doktor, Sie haben mir vor vielen Jahren folgendes gesagt, und das hat mir geholfen.“ Der Hirte gibt Rat in Lebensproblemen und für die Lebensgestaltung. Der Patient kennt seine Stimme und verbindet sie mit einem tiefen Vertrauen.
II. der Einsatz und der Kampf des Hirten
Folgende Gefahren sind in Joh. 10 für die Herde bzw. die Schafe beschrieben:
Diebe und Räuber, Fremde, der Mietling und der Wolf.
10Ein Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und umzubringen. Ich bin gekommen, damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen.
11Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. 12Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie –13denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe.
Die Lebensbedrohung der Schafe wird hier vor allem durch den Dieb und den Wolf beschrieben. Der Wolf verängstigt, verunsichert, zerstreut und tötet. Die Schafe sind nicht in der Lage, sich selbst zu helfen. Der Mietling hat kein Verantwortungsbewusstsein und zieht sich zurück. Der Hirte wehrt den Wolf ab durch Standhalten und durch den Einsatz seiner Person.
Der Text vom guten Hirten in Joh. 10 ist ein außerordentliches Bild, das in Ebenen unterschiedlicher Tiefe Auftrag und Weg des Gottessohnes auf Erden beschreibt. Aber er zeigt auch seinen Nachfolgern und Glaubenden, die Ärzte sind, was auf unseren Beruf übertragbar sein könnte. Was ist die Botschaft hinter dem Wort für uns? Wie übertragen wir beispielsweise den Angriff des Wolfes auf unsere Patienten?
Es gibt schicksalsmäßig sich ereignende Erkrankungen, deren Prognose oftmals, aber nicht immer, der Tod ist. Dazu gehören u. A. die bösartigen Tumoren oder die Koronare Herzerkrankung. Manche dieser Erkrankungen haben Frühsymptome, die sich dem Arzt öffnen, der seine Patienten kennt. „So hat sie/er beim letzten Gespräch nicht auf mich gewirkt. Diese leichte Blässe oder diskrete Luftnot oder erschwertes Aufstehen oder ungewöhnliche Formulierung usw.“ wichtige Frühsymptome erschließen sich nur dem, der Vertrautheit, „Stimme“ und „Folgen“ kennt.
Standhalten, für Frühsymptome sensibel sein und die Folgen des Angriffs des Wolfes für unsere Patienten versuchen abzuwehren. Mir war schon sehr früh wichtig, wie wir unseren alten Patienten helfen können, so lange wie möglich zu Hause zu bleiben. Den Kampf gegen die Folgen der chronischen Erkrankungen des Alters aufnehmen. Was können wir gegen den Verlust von Muskulatur und Gleichgewicht und die drohenden Stürze mit ihren mitunter schrecklichen Folgen unternehmen? Auch das war mir eine Hirten-Aufgabe.
III. war es vor 30 Jahren ganz anders?
Als wir vor etwa 30 Jahren die Geschichte des guten Hirten zu unserem Modell für unser Arzt sein machten, da gab es viele Patienten, aber auch viele Hausärzte. Für uns ging es auch um die wirtschaftliche Sicherheit. Es gab genug Räuber und Diebe, die immer dann, wenn wir nicht aufpassten oder aufpassen konnten, in unsere Patienten Herde einbrachen. Auch das war damals ein Thema, das wir bei unseren Treffen aufgreifen mussten. Als biblische Antwort gegen den Diebstahl hatten wir die Eselsregeln entdeckt.
Die Eselsregeln in 2. Mose 23, 4.5. regelten für uns den Umgang mit den Patienten von anderen Praxen, z.B. in der Urlaubszeit. Auch wenn es um uns herum anders gehandhabt wurde, so haben wir uns zu einem anderen Verhalten verpflichtet, dessen Grundwahrheit aus dem Mosaischen Gesetz stammte. Der Text ist so klar, dass eine Erläuterung unnötig erscheint.
2. Mose 23, 4.5.
4. Wenn du dem Rind oder Esel deines Feindes begegnest, die sich verirrt haben, so sollst du sie ihm wieder zuführen. 5. Wenn du den Esel deines Widersachers unter seiner Last liegen siehst, so lass ihn ja nicht im Stich, sondern hilf mit ihm zusammen dem Tiere auf.
Da kommt ein armer Patient in der Vertretung zu uns. Er ist unter der Last der falschen Diagnosen oder der Last der vielen Medikamente zusammengebrochen. Wie helfe ich ihm so, dass der eigene Hausarzt gut dabei ausschaut?
Zum Thema der wirtschaftlichen Sicherheit hatten wir den folgenden Hirtentext aus den Sprüchen für uns entdeckt.
Spr.27, 23Auf deine Schafe hab acht und nimm dich deiner Herden an;
24denn Vorräte währen nicht ewig, und auch eine Krone währt nicht für und für.
25Ist das Gras abgeweidet und wiederum Grünes nachgewachsen und ist das Futter auf den Bergen gesammelt,
26dann kleiden dich die Lämmer, und die Böcke geben dir das Geld, einen Acker zu kaufen;
27du hast Ziegenmilch genug zu deiner Speise, zur Speise deines Hauses und zur Nahrung deiner Mägde.
3 Merksätze beschreiben unsere eigene wirtschaftliche Sicherheit:
1. Fürsorge für die Schafe steht vor der Eigensorge, und das hat Folgen.
2. die eigene wirtschaftliche Sicherheit ist eine Folge der Fürsorge für die Schafe/ die Herde/ die Patienten.
3. Patiententreue ist eine Folge der Fürsorge.
Epikrise Dezember 2021:
In den 30 Jahren ist viel geschehen. Die Randbedingungen für unsere hausärztliche und fachärztliche Tätigkeit in Praxis oder Krankenhaus haben sich massiv geändert. Aber die biblischen Wahrheiten sind geblieben. Einige aus unserem alten Team sind dabei, in Rente zu gehen. Wir alle haben treu darum gekämpft, Gottes ewiges Wort in unseren Herzen und in unserem Beruf festzuhalten. Unsere liebende Gemeinschaft hat diese Wahrheiten miteinander verknüpft. Wolfgang Hasselkus